Kirchenexperten: Europas Chancen für Wandel in Lateinamerika nutzen
[25.06.20, KAP] Die aktuell in Lateinamerika völlig aus dem Ruder laufende Corona-Krise zeigt nicht nur die Fehlkonstruktion des dortigen Polit- und Wirtschaftssystems auf, sie ist zugleich als Weckruf an Europa zu verstehen, Ansätze einer nachhaltigen Entwicklung der Region zu fördern: Das haben am Mittwochabend Kirchenvertreter aus Brasilien, Guatemala und Bolivien bei einem gemeinsamen Webinar der Koordinierungsstelle der Bischofskonferenz für Entwicklung und Mission (KOO) und der Ordensgemeinschaften unter dem Titel "Globale Krise - Globale Kirche" deutlich gemacht. An die 40 Fachleute aus Österreich und Lateinamerika nahmen am zweiten Part der Pandemie-bedingten Ersatzveranstaltung zur traditionellen "weltkirche.tagung" teil.
In Brasilien rächt sich jetzt eine seit der Jahrtausendwende andauernde Entwicklung, schilderte die Anthropologin Moema Maria Marques de Miranda. Die Konzentration auf Soja- und Rohstoffexporte habe hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt geschaffen, deren Schwächen sich besonders in Krisenzeiten zeigten: "Die Unsicherheit und Frustration in der Bevölkerung sind enorm, Solidarität und Mitgefühl verschwinden und man sucht Sündenböcke. Was in Österreich die Flüchtlinge, sind in Brasilien die Negros und die Indigenen, und man fragt: Warum bekommen die so viele Ländereien?"
Die derzeitige Corona-Krise habe den Zusammenbruch der Gesellschaft zusätzlich beschleunigt, warnte die Direktorin des brasilianischen Instituts für Sozial- und Wirtschaftsanalysen (Ibase), die im Vorjahr Beraterin der vatikanischen Amazonas-Synode war und auch Projektpartnerin der Dreikönigsaktion ist. "Die vielen Corona-Toten und das Leid der anderen sind vielen egal. Sie denken, Hauptsache mir geht es gut." Ein kürzlich publik gewordenes geheimes Video von einer Regierungssitzung habe die Verachtung der brasilianischen Minister gegenüber dem Schicksal der Menschen - insbesondere der Indigenen - auf abschreckende Weise vor Augen geführt. Der Markt wie auch ihre Regierung seien "blut- und herzlos", beide würden "nur das Geld anbeten", kritisierte Miranda.
Schützenhilfe für neues Nachdenken
Gleichzeitig entstünden jedoch auch Gegenbewegungen und neue Formen des Widerstandes und der Solidarität, zeigte sich die Expertin hoffnungsvoll. Auch in Brasilien, wo die Todesopfer durch Polizeigewalt mit rund 6.000 jährlich mehr als das Fünffache der USA betragen, sei es nach dem Tod des US-Afroamerikaners George Floyd zu Massenprotesten gekommen. "Die gängige Logik kommt in Diskussion. Immer mehr Menschen erkennen, dass es so nicht weitergehen kann, und stellen sich die Frage: Welche Welt wollen wir?", so die Koordinatorin des Netzwerks "Kirchen und Bergbau" (Red Iglesias y Mineria). Weltweit sei für neue Weichenstellungen ein "Schlüsselmoment", der nur durch sofortiges Handeln genutzt werden könne.
Die Initiativen des "Wandels" seien auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Dass kürzlich eine Gruppe europäischer Wirtschaftstreibender gedroht habe, sie werde den Handel mit Brasilien einstellen, sofern dessen Regierung den Amazonas-Regenwald weiter zerstört, sei ein äußerst wirksamer Schritt. Doch auch die Kirche als "Verteidigerin des Lebens gegenüber der Logik des Todes" habe Wertvolles zu bieten - durch Vernetzung, Stärkung der Gemeinschaft, inhaltliche Impulse wie die Papst-Enzyklika "Laudato si" und die Amazoniensynode oder Solidaritätszeichen. Dass die österreichischen Bischöfe in der Vorwoche öffentlich Kritik an der politischen Führung Brasiliens für deren "Blindheit" übten, bezeichnete Miranda ausdrücklich als bedeutende Unterstützung für den Einsatz der brasilianischen Ortskirche hervor.
Auch die Konsumenten der Industrieländer nahm die Sozialexpertin in die Pflicht: "Dem 'America first' muss entgegengehalten werden, dass wir mit dem Lebensstil der USA nicht alle in der Welt Platz haben", mahnte sie und rief zu einer "kulturellen Revolution" auf: "Ich muss wissen, woher das Produkt kommt, das ich kaufe, oder dass ich mich mitverantwortlich für die Amazonas-Abholzung mache, wenn ich Fleisch esse." Eine "neue Aufmerksamkeit" sei vonnöten, mit Wertschätzung besonders für die indigenen Kulturen und deren Wissen um Verbundenheit allen Lebens. "Jeder Einzelne sollte im ersten Schritt versuchen, die beste Version von sich selbst zu sein", so Miranda.
Gemeinschaftliche Ansätze
Weitere Perspektiven auf die aktuelle Corona-Krise lieferte bei dem Webinar u.a. Shyeny Vasques als Vertreterin der katholischen Basisgemeinden in Guatemala. Auch in ihrem Land sowie in weiten Teilen Lateinamerikas herrsche heute ein mit Korruption gepaarter Raubtierkapitalismus, an dem die arme Bevölkerungsmehrheit - unter ihnen erneut die Indigenen - die großen Leidtragenden seien. Aktuell in der Corona-Krise werde dies besonders durch das Zusammenbrechen des gesamten Gesundheitssystems ersichtlich, an der plötzlichen Arbeits- und Mittellosigkeit der vielen Tagelöhner und Straßenverkäufer, jedoch auch an den Gewaltexzessen, zu denen es wegen Nahrungsmangels immer wieder komme.
Sie sähe es vor allem als Chance kleiner christlicher Gemeinschaften, Lösungsansätze für die schwere Krise im Sinne des Konzepts des "buen vivir" (gutes Leben aller) zu finden und zur Umsetzung zu bringen, sagte Vasques. Da diese Gruppen selbst weder wohlhabend seien noch Förderungen bekämen, setze man in Guatemala auf Initiativen wie Gemeinschafts- und Familiengärten oder kleine Hühnerprojekte, versuche angesichts von Ärztemangel und Medikamentenengpässen die "Medizin unserer Vorfahren" für heute wieder neu zu entdecken und arbeite hin auf verstärkte Vernetzung und Kommunikation der Gruppen untereinander.
Leid der Indigenen
Die Generalsekretärin der Caritas Bolivien, Marcela Rabaza Valverde, verdeutlichte den Fokus des kirchlichen Hilfswerks auf in der Pandemie besonders vernachlässigte Randgruppen wie Häftlinge, venezolanische Flüchtlinge, sowie abermals die indigene Bevölkerung. Deren Regionen sind in vielen Ländern Lateinamerikas jene mit der höchsten Sterberate bei Covid-19, was Rabaza mit einer dort besonders schlechten Gesundheitsinfrastruktur begründete. Bei aller Hygiene-, Medizin- und Nahrungsmittelhilfe seien für die Kirche das "Zuhören" und das "Vermeiden eines Überstülpens vermeintlicher Lösungen" besonders wichtig, erklärte die Caritas-Vertreterin. Auf diese Weise habe es sich beispielsweise als weitaus wirksamer erwiesen, in indigenen Dörfern mit Kalk statt alkoholhaltigem Gel zu desinfizieren.
"Das Coronavirus betrifft die indigenen Völker eindeutig stärker als andere Sektoren der brasilianischen Gesellschaft", bekräftigte auch Adriana Huber Azevedo als Vertreterin des Indianermissionsrates CIMI, dessen Vorsitz bis 2015 der österreichische Amazonasbischof Erwin Kräutler innehatte. Brasiliens Regierung missbrauche die Pandemie für eine Öffnung der eigentlich von der Verfassung geschützten indigenen Territorien, damit andere - etwa Goldsucher oder Minenbetreiber - diese ausbeuten könnten. Die erzwungene Migrationsbewegungen der Völker in die Peripherien der Metropolen, um dort unter prekären Bedingungen zu leben, halte an. "Indigene sind jene, die am meisten leiden", stellte die Kirchenvertreterin fest.
Der Missionsrat richte seine Anstrengungen bei der Verteidigung der Amazonas-Ureinwohner besonders darauf, den Staat an seine Verantwortung für die Garantie der Menschen- und Grundrechte wie jenes auf Territorium und auf Gesundheit zu erinnern, erklärte Huber Azevedo. Verletzungen dieser Rechte würden vom CIMI dokumentiert, die Situation laufend analysiert, Begleitung bei Protesten gewährt und Hilfen in der Vorbereitung von Klagen gegeben. Für September kündigte die Indigenen-Aktivistin die Präsentation eines Überblicks-Lageberichts der indigenen Völker angesichts der Covid-19-Pandemie bei der UNO an.