Das gemeinsame Haus wird leerer:
[22.04.22, PA] Laut Fachstelle KOO sind gesellschaftliche Auseinandersetzung und wirtschaftliche Neuausrichtung auf Gemeinwohl dringend notwendig.
Während der Krieg in der Ukraine oder anderen Krisengebieten, wie etwa Tigray in Äthiopien, oder die Folgen der Corona-Pandemie all unsere Aufmerksamkeit fordern, passieren manche Katastrophen leise und ohne viel Aufsehens. Dazu gehört auch der dramatische Rückgang der Artenvielfalt. Die Zahlen dahinter sind alarmierend: nach Einschätzung der Forschung sind wir Zeug*innen eines Massenaussterbens. Über ein Viertel der Säugetiere und circa 41 Prozent der Amphibienarten sind vom Aussterben bedroht. Und in nur 40 Jahren sind die Populationen von mehr als 3.700 Wirbeltierarten um fast zwei Drittel zurückgegangen. Dabei gehören die veränderte Nutzung von Land und Meeren und die direkte Ausbeutung der Natur mit mehr als 50 Prozent zu den direkten Treibern aller globalen Auswirkungen auf die Ökosysteme.
Nach mehrmaligen Verschiebungen ist für Herbst 2022 der 2. Teil der die 15. Vertragsstaatenkonferenz der UNO (COP15) zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt in China geplant. Sie soll ein neues, ambitioniertes Übereinkommen bringen. Bis dahin stehen noch viele Verhandlungen bevor, um Lebensräume für Flora und Fauna, aber auch den Menschen zu schützen und/oder wiederherzustellen sowie die Finanzierung dessen zu gewährleisten. Auch in Österreich wartet man bislang vergeblich auf die Veröffentlichung der Biodiversitätsstrategie.
Zu den zähen Prozessen meint Anja Appel, Leiterin der KOO (Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission): „Der Verlust der Artenvielfalt ist hier wie weltweit erschütternd und neben der Klimaerhitzung eine der gefährlichsten Krisen unserer Zeit. Umso erstaunlicher ist es, dass die Degradierung der Schöpfung weder gesellschaftlich noch politisch in besonderem Maße thematisiert wird. Die kürzlich erschienenen Berichte der 2. und 3. Arbeitsgruppe zum 6. Sachstandsbericht des IPCC haben nochmals klar zum Ausdruck gebracht, um was es geht: wir haben nicht mehr viel Zeit. Das Gestaltungsfenster zum Schutz des Klimas und damit verbunden auch dem Schutz der Arten schließt sich.“
Der Verlust der Artenvielfalt betrifft die Menschheit weltweit. Er hat massive Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung, die Allgemeingesundheit und die Resilienz angesichts einer sich zuspitzenden Klimakrise. Auch die Gefahr von zusätzlichen Krisen wie Pandemien steigt. Appel weiter: „Die KOO als Interessenvertretung der entwicklungspolitisch tätigen katholischen Organisationen sieht sich verpflichtet, diese Problematik aufzugreifen. Die Klimaveränderungen und der Verlust der Artenvielfalt verstärken sich gegenseitig und wirken sich auf alle Regionen der Welt aus. Als Teil der Schöpfung sind wir Menschen von Grund auf abhängig und zugleich durch unser massives Eingreifen in Naturräume wesentlich verantwortlich für deren Zerstörung. Unser gemeinsames Haus wird leerer und braucht daher unseren dringenden Einsatz.“
Die Konfliktlinien auf allen politischen Handlungsebenen, von den internationalen Verhandlungen über die Auseinandersetzungen auf nationaler bis hin zur lokalen Ebene zeigen, dass im Wesentlichen die ökonomischen Profiteure des Status Quo, der das Artensterben anfacht, die Gegner von inhaltlich ambitionierten, quantitativ messbaren und verbindlichen und einklagbaren Regelungen sind. Seien es die Industriestaaten, die sich gegen adäquate Finanzierungsbeiträge wehren, sei es die globale Pharmalobby, die keine finanzielle Abgeltung für genetisches Wissen etwa aus Pflanzen leisten will, seien es Institutionen der Agrarlobby, die keine Abstriche bei Flächen oder Wirtschaftsweise machen möchte zugunsten von Schutzräumen oder quantitativen Zielen etwa zur Eindämmung von Pestizideinsatz. Appel dazu: „Und genau an diesem Punkt müssen Gesellschaften und ihre politischen Vertreter*innen die Umkehr einleiten zu einem enkel*innentauglichen Lebensstil, zu einer gemeinwohlzentrierten Wirtschaft, zu einem ressourcenschonenden Konsum durch Kreislaufwirtschaft und mehr Genügsamkeit, zu einem schnellen Verzicht auf die weitere Nutzung fossiler Brennstoffe.“
International fordern zivilgesellschaftliche Organisationen ambitionierte Ziele und eine durch die reichen Staaten garantierte Finanzierung, denn es braucht national wie weltweit unbedingt ausreichend finanzielle Mittel zur Wiederherstellung zerstörter Lebensräume, zum Ausbau der Schutzgebiete auf 30 % der Landesfläche, zum verbesserten Schutz von Gewässern und für spezifische Programme für besonders gefährdete Arten. Den Preis für unseren bisherigen Lebensstil haben zulange Menschen in Ländern des globalen Südens und Naturräume bei uns und weltweit gezahlt.
Appel meint: „Wichtig ist, dass es endlich zu einer breiten gesellschaftlichen Befassung kommt, um das Bewusstsein und die Bereitschaft bei den Menschen zu steigern. Denn es bedarf auch vieler Veränderungen in unserer Lebens- und Wirtschaftsweise, Mobilität und Ernährung. Es braucht mehr Genügsamkeit, Reduktion und Verzicht. Dabei gewinnen wir zugleich: wir gewinnen Zukunft, wenn wir die Artenvielfalt erhalten. Wir gewinnen Frieden, wenn wir lernen, miteinander Lösungen zu finden. Wir gewinnen Gerechtigkeit, wenn wir uns den Realitäten der jetzigen globalen Strukturen ernsthaft stellen und uns für deren Veränderung einsetzen. Dazu gehört auch, in der Entwicklungszusammenarbeit ressourcenschonende, partizipative und die biologische Vielfalt fördernde Ansätze wie etwa die Agroökologie stärker zu fördern.“